Fast jede unserer lieben, alten deutschen Städte besitzt ein Wahrzeichen oder Denkmal, das vom Wirken ihrer Bürger, von der Geschichte ihres Gemeinwesens oder vom Sinn ihrer Einwohner sichtbares Zeugnis gibt. Nicht selten sind es Gebilde von hohem kunst- oder kulturhistorischem Wert. Wenige indessen können es an Originalität und tiefer, fast hintergründiger Symbolik mit dem Bildwerk aufnehmen, das noch heute im Herzen der alten badischen Markgrafenstadt Ettlingen steht: mit dem Ettlinger Narrenbrunnen.
Seine Aufstellung erfolgte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, da allüberall zum erstenmal gegen die alten Gewalten aufgemuckt und ein freies Wörtlein gewagt wurde. In den Formen der Renaissance aus Sandstein gebildet, zeigt der Brunnen auf seinen mit Ornamenten reich verzierten Stock weder einen Heiligen noch einen Fürsten - sondern einen Narren, angetan mit allen Insignien seiner närrischen Würde, mit Narrenkugel und Narrenkolben. Zu seinen Füßen duckt sich ein lausbubenhafter Knirps, der allen, die des Weges kommen, in großartiger Unbekümmertheit das bloße Hinterteil zeigt, eine Geste, die eindeutig genug ist und eigentlich keines erläuternden Kommentars bedürfe. Deshalb muss die Tafel, die der Bub hinter dem Rücken seines närrischen Meisters emporhält, für jene Sorte von Zeitgenossen aller Epochen bestimmt sein, die es verlernt haben, den Leuten aufs Maul - oder auf die Kehrseite zu schauen: für Eingebildete und Philister, für Besserwisser und Nasenrümpfer, für Groß- und Dummkopfete, vor allem aber für Humorlose, die sich zum Lachen zu gut sind.
,,Las mich unferacht / bedenck der welt / wysheit und bracht / ist vor got / ein dorhet geacht" - so lautet die Aufschrift der Tafel, und sie ist für alle Vertreter der vorgenannten Spezies Mensch eine gar deutliche Lektion, zumal sie trotz der altertümlichen Sprache durchaus zeitlos erscheint. Natürlich hat man sich längst eifrig bemüht, dem Narren auf der Brunnensäule historisch auf die Schliche zu kommen, und man fand den entscheidenden Fingerzeig in einem Relief-Medaillori über dem linken Ausflussrohr des Brunnens. Das hier wiedergegebene Porträt scheint identisch mit dem Bildnis des Narren Hansele von Singen, das der Straßburger Medailleur Friedrich Hagenauer etwa zur gleichen Zeit schuf, als man zu Ettlingen den Narrenbrunnen erstellte. Besagter Hansele aber war der Hofnarr des Markgrafen Philipp von Baden und ein Großer seiner Zunft, dem sein Biograph nachsagt, er habe, sich selbst ,,Schicksalsbieger und feiertäglichster Narrenkönig" genannt.
Indessen, so betrachtet wäre der Ettlinger Narr nicht mehr und nicht weniger als eine zwar drollige, aber eben doch nur historische Sandsteinfigur. Auch dass ihn das Volk mit jenem sagenhaften kaiserlichen Hofnarren gleichsetzte, der einstmals durch ein keckes Wort der Wahrheit den letzten von zwölf Ettlinger Ratsherren vor dem Enthaupten rettete, verliehe ihm nicht mehr als zusätzlichen Denkmalswert. Nein, in Wirklichkeit ist Hansele von Singen den Ettlingern ein mahnendes Symbol und der steingewordene Ausdruck gewisser charakteristischer Eigenschaften. In seinem Zeichen haben sie - mit Erfolg, wie manche Episoden der Stadt-geschichte bewiesen - gelernt, das Maul aufzutun und unverblümt die Wahrheit zu sagen; wann und wo dies aber nicht möglich war oder ist, scheuen sich die braven Ettlinger nicht, zur Gerte des Narrenlehrbuben ihre Zuflucht zu nehmen.
Wen mag's da noch wundern, wenn die Ettlinger ihrem Narren zu Fasnacht ganz besondere Ehren erweisen? Da drängt sich zu seinen Füßen die bunte Schar seiner Narrensöhne und -töchter, lachend und scherzend und ausgelassener noch als das Büblein mit der gewichtigen Tafel. Hansele schaut mit ernstem Gesicht über sie hin; vielleicht denkt er schon an Aschermittwoch und die anderen trüben Tage des Jahres, an denen keine Narren mehr ihr Wesen treiben. Doch dann ist er noch immer zur Stelle - und mit ihm die Mahnung zu Wahrheit und Weisheit und zum offenen, unerschrockenen Wort.
Hans L. Zollner